Das Literaturmuseum Badenweiler erfindet sich neu –
Eindrücke von der Internationalen Tschechow-Woche 2015
im 17. Internationalen Literaturforum Badenweiler

Es hieße die berühmten Eulen mit der Erklärung nach Athen tragen, dass Museen in unserer globalen Kommunikationsgesellschaft immer wichtiger werden. Dennoch sei es gesagt: aus historischen Sammelstätten und Kunsttempeln werden nicht nur Erlebnis- und Begegnungsräume, sondern zentrale Orte der nationalen und regionalen Identitätsbildung wie geistiger Unterhaltung. Und Literaturmuseen bilden dabei durch ihr letztlich „unsinnliches“ Primärprodukt, das Buch, eine besonders anspruchsvolle Spezies, hier weht sozusagen der Geist unserer immer vernetzter gewordenen Gesellschaft, den es anschaulich und spannend zu machen gilt.

Badenweiler scheint mit seinem am 17. Juli 2015 feierlich eröffneten neuen Literarischen Museum „Tschechow-Salon“ dieses Kunststück geglückt zu sein.

Ergreifende Theaterkultur zum Start in die Internationale Tschechow-Woche

Dass „Museumsbespielungen“ zum Kernbereich eines erfolgreichen Literaturmuseums zählen, hat Badenweiler stets mit Nachdruck vertreten, so auch jetzt: Ein vierstündiger Spaziergang zu literarischen Gedenkstätten des Heilbads unter Leitung von Rolf Langendörfer mit Lesung in der Villa Hedwig, wo Hermann Hesse gekurt hatte, war traditioneller Start der Tschechow-Woche am Sterbetag des Schriftstellers (15.7.), an dem auch einige Gäste der bereits am Vortag angereisten großen russischen Delegation teilnahmen.

Dann, nach der Jahreshauptversammlung der Dt. Tschechow-Gesellschaft folgte am 16.7. abends das erste theatralische Glanzstück: „Die Verspiegelte“, eine deutschsprachige Inszenierung der „Russischen Bühne Berlin“ nach einer Erzählung des russischen Symbolisten Waleri Brjussow, eines Bekannten Tschechows. Seit neun Jahren bereichert die Russische Bühne als einziges russisch- und deutschsprachiges Profitheater die Kulturszene der Hauptstadt. Dessen künstlerische Leiterin Inna Sokolova-Gordon hatte noch in Moskau bei einem der letzten lebenden Schüler des Theaterreformers Konstantin Stanislawski studiert und ist dessen Regieprinzipien treu geblieben. Xenia Kochler, Protagonistin dieses Ein-Frau-Stückes, erhielt stürmischen Applaus, erlebte, ja fühlte doch das Publikum atemberaubend die Emotionen und Qualen einer Ich-Spaltung mit, mit der die Heldin ihrem Spiegelbild verfällt und um Befreiung kämpft.

„Tief symbolisch“ – die glanzvolle Museumseröffnung

Da der Ratshaussaal für die erwartete Gästezahl am 17.7. keinen Platz geboten hätte - es waren schließlich trotz der Saharatemperatur von 39 Grad rund 300 Besucher gekommen - wurde das Eröffnungsritual im René-Schickele-Saal im Kurhaus vorgenommen, passend eingeleitet mit der Tschajkowski-Arie „Inmitten des rauschenden Balls“ und in vollkommener Artikulation vorgetragen durch den international renommierten Belcanto-Tenor Wladimir Kuzmenko, auf dem Flügel begleitet von Pianist und Komponist Wladimir Milman. Dass zwei Grußwortsprecher fehlten, war keineswegs der Hitze geschuldet. Dr. h.c. Gernot Erler, MdB, Russlandkoordinator und OSZE-Sonderbeauftragter der Bundesregierung sowie gerade wiedergewählter Kuratoriumspräsident der Dt. Tschechow-Gesellschaft (DTG), erlitt das nämliche Politikerschicksal wie Wladimir Grinin, Botschafter der Russischen Föderation in Berlin, beide mussten kurzfristig wegen Konferenzen absagen.

Tenor Kuzmenko singt & Franziska Trischler & Stefan Pflaum & Pianis...
Tenor Wladimir Kuzmenko

Dass Grußworte eine eigene spannende und informative Redegattung sein können, zeigten die nächsten 70 Minuten: Bürgermeister Karl-Eugen Engler konnte nach der Gästebegrüßung voller Befriedigung darauf hinweisen, dass mit dem Umzug endlich die „suboptimale“, vor 18 Jahren aus der Not getroffene Museumslage im hintersten Trakt des Kurhauses vorüber sei und der „Tschechow-Salon“, der bereits eine ungeahnte Erfolgsgeschichte vorweisen könne, nun an zentraler Stelle Profil und Renommee des Heilbads länderüberschreitend fördern könne. Dass Engler zudem aus den Badenweiler-Erinnerungen des „Museumsneubürgers“ K. Stanislawski, des nun zweiten großen russischen Namens neben Tschechow, zitieren konnte, war ein sprechendes Beispiel für bislang erst jetzt erschlossene neue deutsch-russische Begegnungen im Kurort.

Sergej Maguta, Erster Botschaftsrat und Kulturattaché der russischen Botschaft aus Berlin, verlas das Grußwort des Botschafters, der die Museumseröffnung ein „zutiefst symbolisches Ereignis“ nannte, das die mehrhundertjährigen engen und positiven Beziehungen Deutschlands mit Russland aller aktuellen Spannungen zum Trotz fortführe; Wladimir Prasolow, Oberbürgermeister Taganrogs, gab dem Stolz seiner ganzen Stadt über die Partnerschaft mit Badenweiler im Namen Tschechows Ausdruck und Dr. Johannes Dreier, Leiter der Kulturabteilung des Regierungspräsidiums Freiburg, überbrachte Grüße der verhinderten Regierungspräsidentin Schäfer und ging humorvoll auf Tschechows Spott auf das Beamtentum ein, der aber heute kaum mehr berechtigt sei. Das Präsidium würdige die außerordentliche Bedeutung Tschechows und Badenweilers für ganz Südbaden, Badenweiler sei ein Ort der Aussöhnung mit Russland.

Prof. Dr. Dmitri Bak, Direktor des Staatlichen Literaturmuseums der Russischen Föderation in Moskau, betonte die besondere Stellung Badenweilers im Netzwerk der Internationalen Gemeinschaft der Tschechow-Museen und -Bibliotheken, welche ein kulturelles Modell für grenzüberschreitende Dialoge sei; Prof. Dr. Rolf-Dieter Kluge, gerade neu im Amt bestätigter Vorsitzender der Dt. Tschechow-Gesellschaft, sah die Aufgabe eines modernen Museums darin, ein öffentlicher Ort zu sein, der trotz der Leseunlust der jungen Generation geistige Bedürfnisse wecken und im Schillerschen Sinne gleichermaßen Bildung und ästhetisches Wohlgefallen bewirken solle.

Und Dr. Thomas Schmidt, Leiter der Marbacher Arbeitsstelle für alle rund 100 Literaturmuseen des Landes Baden-Württemberg – womit das Land den Spitzenplatz in Deutschland einnimmt – lobte die gute Zusammenarbeit mit den Museumsplanern Badenweilers und der den praktischen Ausbau leitenden Designfirma Ranger in Stuttgart und gestand dem neuen Museum zu, dass es nun in der „Championsleague“ des Landes spiele. Für BM Engler dürfte auch Schmidts Mitteilung wie Engelszungen geklungen haben, dass der Landeszuschuss von 30.000 € noch Luft nach oben aufweise.

Museumsleiter Heinz Setzer beendete die Feierstunde mit Aperçus zur neuen Museumskonzeption: Im Rathaus stünden dem Betrachter die Literaten visuell in Augenhöhe gegenüber – eine Art museale Suggestion von persönlicher Nähe, welche die Öffnung des Museum nach außen, zur Gesellschaft, zum zentralen Anliegen mache. Mehrere, auch mediale Inszenierungsstrategien wie Film- und Hörstationen, sorgten dafür, den dialogischen Saloncharakter als Ort der Muße und Entspannung zu bewahren, wozu auch die Reduzierung der Infotexte und verstärkte Übersichtlichkeit als neues Raumgefühl gehöre. Zudem sei das neue Museum mit nun 23 Literaten nicht nur viel breiter aufgestellt als das alte, es habe auch weiterreichende Ziele: Soll es doch, nicht ohne humorvolles Augenzwinkern, über Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Werke und deren Beziehungen zu Baden und zu Badenweiler ebenso informieren wie über literarische Netzwerke, die von Deutschland, Frankreich und Russland bis in die USA reichen.

Von den weiteren ausländischen Ehrengästen seien noch genannt: Alexander Bulay, der als Generalkonsul der Russischen Föderation in Frankfurt, zuständig für Hessen und Baden-Württemberg, gerade wenige Tage zuvor sein Amt angetreten hatte; Jelisaweta Lipowenko, Direktorin des Tschechow-Museumskomplexes in Taganrog und Vertreterin des Kulturministeriums des Gebietes Rostow; Prof. Konstantin Bobkov, Generaldirektor des Staatl. Zentralen Tschechow-Museums und der Gedenkstätte Melichowo bei Moskau sowie Vizedirektorin Olesja Pospejewa; Marina Radomskaja, Kulturbürgermeisterin Taganrogs; Alexander Mirgorodski, Leiter der internationalen Abteilung der Taganroger Administration; Alexander Amerkanow, Präsident der IHK Taganrog.

Nach der Eröffnung im Kurhaus verlagerte sich das Geschehen nach einem kurzen Spaziergang auf den Tschechow-Platz, wo BM Engler, Arbeitsstellenleiter Dr. Schmidt und Museumsleiter Setzer gemeinsam das symbolische rote Band durchschnitten und das Museum für die Besucher öffneten. nachfolgend lud die Gemeinde zum Stehempfang in den Ratssaal des Rathauses, wo man sich mit der neu geschaffenen Edition „Tschechow-Sekt“ (WG Britzingen) erfrischen konnte.

Badenweilers „Paradiesgärtlein“ querbeet serviert im Kurpark

Literarisch-musikalische Soiree Museumseröffnung Alphortrio 2
Alphorntrio Badenweiler

ein „Paradiesgärtlein“ hatte Johann Peter Hebel den Kurort liebevoll genannt, nun sollte auf der Konzertmuschel im Kurpark dieses Lob musikalisch-literarisch inszeniert werden. Musikalische Protagonisten waren das Alphorntrio der Trachtenkapelle Badenweiler (Annette Kreutz, Nico und Fritz Steinbrunner), die eine völlig ungewohnte Klangfülle einbrachten, die wohl, wie dem Instrument eigen, noch über die Berge zu hören war. Dann erneut der in Kiew geborene dramatische Tenor Wladimir Kuzmenko, der in den Konzertsälen und Opernhäusern Italiens, Frankreichs, Norwegens, der Schweiz und den USA ebenso bekannt ist wie in der Ukraine und in Russland, wo er schon den Roten Platz in Moskau füllte, und der zuletzt bei der Staatsoper Stuttgart auftrat. Am Flügel spielte der in Moskau geborene Wladimir Milman, der auch als Komponist und Arrangeur einen internationalen Namen besitzt. Kuzmenko gab mit strahlender Kraft und subtilem Schmelz Arien aus Tschajkowskis Opern „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ bis zum slawischen romantischen Volkslied – ein Hörgenuss, dem Ereignis angemessen. „Zwischengeschaltet“ waren dann jeweils Literaturlesungen und die nicht minder beeindruckend: Die in den USA geborene Franziska Trischler, die als Sprechwissenschaftlerin und Sprechkünstlerin der Akademie Freiburg eine absolute Ausnahmeerscheinung an Artikulationskunst und Wohlklang ist, las Tschechows berühmte Erzählung „Roman mit der Bassgeige“, Gedichte und aus dem Roman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ von Stephen Crane. Der bekannte Schriftsteller und alemannische Mundartdichter Stefan Pflaum las Hebels Erzählung vom „Zundelheiner“ und trug eigene Gedichte vor, darunter seinen „Hebel-Rap“, der in einem Begeisterungssturm endete. Museumsleiter Heinz Setzer und Dr. Regine Nohejl vom Slavischen Seminar Freiburg, beide gerade wiedergewählte Funktionsträger im Vorstand der DTG, hatten die Moderation übernommen.

Tag der Offenen Tür

Am nächsten „Tag der Offenen Tür“ (18.7.) riss trotz weiterer Hitzerekorde der Besucherstrom im Museum nicht ab, wobei mit drei Führungen durch die DTG-Vorstandsmitglieder Elisabeth Hartmann, Rolf Langendörfer und Prof. Rolf-Dieter Kluge deutlich wurde, wie Literaturmuseum und umliegende Denkmalslandschaft zusammen gehören. Leider musste die Vorstellung des Filmprojekts der Universität Bremen „Späte Liebe. Die letzten Jahre A. Tschechows“ wegen Erkrankung des Projektleiters Prof. Reiner Matzker kurzfristig abgesagt werden.

Großer Theaterabend mit der Russischen Bühne

Abends dann ein weiterer dramatischer Höhepunkt, das abendfüllende Schauspiel des zeitgenössischen rumänisch-französischen Dramatikers und Schriftstellers Matei Visniec „Nina oder Die Zerbrechlichkeit strohgestopfter Möwen“, gespielt auf Russisch mit deutschem Lauftext. Visniec, der 1987 vor der rumänischen Geheimpolizei nach Frankreich flüchtete und heute in Paris lebt, ist in unserem Nachbarland ein bekannter Autor. Die Russische Bühne, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, vergessene und Avantgarde- Stücke zu spielen, konnte mit „Nina“ zeigen, wie tragikomisch, ja absurd Tschechows Dramen aktuell weiter entwickelt werden. Besteht das dramatische Personal des Stücks, das sich fiktional 1917 während der russischen Februar-Revolution in Moskau wiederfindet, doch aus den Hauptpersonen der Tschechowschen Komödie „Die Möwe“. Trigorin, gespielt von Vadim Grakowski, Nina von Swetlana Lychko und Treplew, (obwohl er sich in Tschechows Stück erschossen hatte), gespielt von André Moshoj, füllten die Rollen voller Verve, nuancenreich und leidenschaftlich. Und wie bei Tschechow dreht sich wieder alles um die alte Liebesdreierbeziehung.

Russland und Baden – aktueller denn je

Cheauré & Kluge Vortrag Russland & Baden
Elisabeth Cheauré und Rolf-Dieter Kluge

Als „ein Blick auf eine lange Tradition“ hatte Prof. Dr. Elisabeth Cheauré, Ordinaria am Slawischen Seminar der Univ. Freiburg, ihren Matineevortrag am letzten Tag der Tschechow-Woche angekündigt, es wurde eine faszinierende Zeitreise daraus, die vielen Hörern die Augen öffnete, wie vielschichtig und tiefgreifend die gemeinsame russisch-badische Geschichte ist. Einesteils waren es die dynastischen Beziehungen, die beide Länder zusammenbanden. Luise, Prinzessin von Baden, hatte 1793 den späteren Zaren Alexander I., als Sieger über Napoleon mächtigster Monarch in Europa, geheiratet und damit die Basis für ein dichtes Netz familiärer und militärischer Kontakte gelegt, die bis zum Ersten Weltkrieg dauerten. Doch nicht minder wichtig ist die russische Bildungsschicht, die schon im 18. Jahrhundert den Rhein aufwärts fuhr, um die Alpen als metaphysisches Höhenerlebnis zu genießen und dabei den nicht minder mythischen Schwarzwald und das liberale Baden und schätzen lernten. Der russische Schriftsteller Karamsin, dessen Reisebeschreibung um 1800 direkt als Handbuch für russische Reisende Verwendung fand und der den Oberrhein als „irdisches Paradies“ beschrieben hatte, ist ein überzeugendes Beispiel. Dass der deutsche Name „Schwarzwald“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Russische Eingang fand, so dass er heute eigentlich keiner Übersetzung mehr bedarf, ist ein Zeichen dafür, dass Baden den Russen als selbstverständlicher Aufenthaltsort galt. Cheaurés Geschichtskarussell bezog auch die Wirtschaft und die Wissenschaft mit ein. Deutlich wurde jedenfalls, dass die Katastophen zweier Weltkriege und der nachfolgende Ost-West-Konflikt nur eine Seite darstellen, die längere, vielschichtigere und vielleicht auch wirksamere, auf der Seite des geistig - kulturellen Austauschs zu suchen ist.

Panichida mit Erzpriester Dronow & Chor Rosinka vor Marienkapelle
Panichida mit Chor "Rosinka"

Traditioneller „Abgesang“ der Tschechow-Woche war die Panichida, die orthodoxe Gedenkliturgie für Anton Tschechow, dieses Jahr erstmals vorgetragen von dem Erzpriester der russisch-orthodoxen Gemeinde in Freiburg, Michail Dronow. Der gemischte russische Chor „Rosinka“ (Tautröpfchen) aus Freiburg lieferte dazu mit Chorsätzen von Chrysostomos und Bortnjanski ein faszinierendes Hörerlebnis von der musikalischen Spiritualität des Ostens.

Dass die russischen Gäste zudem Gelegenheit erhielten, während dreier Exkursionen Freiburg, das Elsass und, was besonders beeindruckte, den Schwarzwald außerhalb der touristischen Brennpunkte kennen zu lernen, war mehr als ein en passant-Erlebnis, soll doch in Zukunft auch der südrussische Deutschlandtourismus ein Zentrum in Badenweiler finden.

Fünf vollgepackte Kulturtage gingen zu Ende, die sich in der Chronik Badenweilers als herausragende Wegmarken wiederfinden lassen sollten.

Heinz Setzer