Ein deutsch-russisches Ausstellungsereignis

Stanislawski, Schiwago und Schwoerer in Badenweiler. Auf Dauer bleibt der Katalog.

Nach fünf Wochen ging am 2. September 2018 die große deutsch-russische Gemeinschaftsausstellung über den bedeutendsten Theaterreformer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den Regisseur und Schauspieler des Moskauer Akademischen Künstlertheaters, Konstantin Stanislawski, und sein Badenweilerer Netzwerk, zu Ende.

Nicht nur viele Bürger des Heilbads und der Region, auch die meisten Kurgäste haben die Sonderausstellung des Literaturmuseums Badenweiler und der Deutschen Tschechow-Gesellschaft gesehen. Und sie waren wohl überrascht und beeindruckt, wie wichtig und vielseitig Badenweiler für die deutsch-russischen Kulturbegegnung seit über 100 Jahren ist, und das nun auch auf einem Gebiet, der Theatergeschichte, mit der man den Ort bislang kaum in Verbindung gebracht hatte.
Da es sich um eine zeitlich begrenzte Ausstellung im Kurhaus handelte, ist nun der Katalog das Instrument geworden, das dem innovativen Thema auf Dauer kulturgeschichtliche Dokumentationskraft verleihen soll.

Sergej Netschajew, der seit Jahresbeginn amtierende Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland, nennt den Kurort deshalb gleich zu Beginn seines Beitrags einen der „bemerkenswertesten Orte der gegenseitigen Verflechtung der deutschen und russischen Kultur“. Und der russische Honorarkonsul in Baden-Württemberg, Prof. Dr. Klaus Mangold, äußert sich nicht weniger ausdrucksstark „[…] sowohl im wirtschaftlichen als auch im kulturellen Bereich hat Baden-Württemberg mannigfaltige Beziehungen zu Russland vorzuweisen, so dass es dieses Bundesland mit einem ganzen Staat aufnehmen könnte. […] Somit ist der kulturelle Austausch die beste Investition in die deutsch-russischen Beziehungen – das kulturelle Band zwischen Deutschland und Russland muss weiterhin gefestigt werden. Denn Vertrauen setzt Vertrautheit voraus.“

Dass mit dem Dreigestirn Stanislawski, dem russischen Arzt und Fotografen Dr. Alexander Schiwago, dem Großherzoglich-badischen Kurarzt, Dr. Josef Schwoerer, und dessen Gattin Elisabeth, einer Schwester von Alexander Schiwago, geschichtsträchtiges Neuland bestritten wurde, hatte früh für ein finanzielles Fundament gesorgt, das erlaubte, bisher weitgehend unbekanntes Bildmaterial aus mehreren großen russischen Museen, Theatern und Archiven zu beziehen. Gefördert hatten die Baden-Württemberg Stiftung, die Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten Berlin (ALG), das russische Honorarkonsulat Stuttgart, die Stiftung West-Östliche Begegnungen Berlin, die Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg sowie Privatpersonen.

Dies erlaubt auch den konsequent zweisprachig (deutsch-russisch) gestalteten Katalog mit 140 Seiten und über 80 Illustrationen für 12 € anzubieten. Vor Ort ist er bei der Touristik-Info im Kurhaus und im Rathaus erhältlich.

Der Ausstellungskatalog berichtet mit vielen Abbildungen der Ausstellung, die vielfach erstmals in Deutschland zu sehen waren, über die Wege des Schicksals, die Stanislawski 1908 und dann 1928 bis 1932 für über 13 Monate seines Lebens nach Badenweiler geführt hatten. Erstmals ist hier sein beeindruckender Bericht zur Einweihung des weltweit ersten Tschechow-Denkmals 1908 am Burgberg auf Deutsch (und natürlich auch auf Russisch) veröffentlicht. Zudem gewinnt man Einblick in seine umfangreichen Aktivitäten in den 1920er und 1930er Jahren im Kurort, die nicht nur seiner Herzschwäche geschuldet waren, sondern auch der Möglichkeit, in relativer Distanz zu den politischen Umbrüchen in der Sowjetunion seine vier (!) Moskauer Theater zu lenken . Wer hätte noch vor wenigen Jahren geahnt, dass damals Badenweiler so etwas wie eine Organisationsfiliale des bedeutendsten russischen Dramentheaters geworden war. Dass Stanislawski, dessen Badenweiler-Aufenthalt zur Zeit des beginnenden stalinistischen Terrors zwischen Exil und Heilfürsorge oszillierte, sich überraschender Weise in Badenweiler auch intensiv mit Opernprojekten befasste, wird gleichfalls thematisiert. Und seine große Würdigung 1928 durch die Wahl zum Ehrenmitglied des Deutschen Theaters in Berlin durch Max Reinhardt und dessen Ensemble ist ein „Bonbon“ deutscher Theatergeschichte, das bislang vergessen war. Autor Setzer konnte zudem zur Oktoberrevolution wie zu den Ideologiekämpfen vor 100 Jahren, die das Moskauer Künstlertheater in eine Existenzkrise führten, spannendes Bildmaterial des russischen Literaturmuseums Moskau wie des Künstlertheaters verwenden.

Ein weiteres Paradestück des Katalogs ist der Bildartikel der russischen Kunsthistorikerin Ada Beljajewa vom Staatl. Zentralen Puschkin-Museum der Bildenden Künste Moskau zu Alexander Schiwago und dessen prächtigen Stereobildern, damals der letzte Schrei der Fototechnik. Sie zeigen u.a. die bisher einzig bekannten Stereobilder von um der Jahrhundertwende von Badenweiler und seiner Umgebung sowie von der Familie Schwoerer. Ein großer Bildteil zu Katalogende bietet zudem einen impressiven Einblick in die Theaterwelt Stanislawskis. Ein Glanzstück sind weiterhin die erstklassigen Atelier-Fotografien aus dem original erhaltenen Album der Familien Schiwago-Schwoerer ab ca. 1890-1910. Das bislang der Öffentlichkeit unbekannte Album wurde dem Badenweilerer Museum von Verena Mayer, der Enkelin von Dr. Josef Schwoerer, geschenkt.

Zwar hat mit Anton Tschechow alles begonnen, was heute als deutsch-russischer Dialog Badenweilers zu Recht gewürdigt wird, doch ist mit Stanislawski ein Name zur Literaturgeschichte des Ortes dazu gekommen, der in der europäisch-amerikanischen Theatertheorie und –praxis als erste Größe gilt. Und Schiwago wie Schwoerer belegen eine zivilgesellschaftliche vertraute Umgangsform zwischen beiden Ländern, die heute kaum mehr vorstellbar scheint.

(Angaben zum Ausstellungskatalog: „Ein neues Theater braucht das Land! Der Theaterreformer und Regisseur des Moskauer Künstlertheaters, Konstantin Stanislawski, der Moskauer Arzt Alexander Schiwago und der Großherzoglich-badische Kurarzt Hofrat Josef Schwoerer“. Hrsg. v. Heinz Setzer, Badenweiler 2018, 140 S., ISBN 978-3-00-0601231, 12 € & Versand)

Heinz Setzer

 


Eine chamäleoneske Soiree

Das Literaturmuseum Badenweiler und die Deutsche Tschechow-Gesellschaft begehen Tschechows Geburtstag.

An authentischer Stätte, dem heutigen Hotel Katharina, der früheren Pension Friederike, eine von Tschechows drei Quartieren 1904 in Badenweiler, hatten Literaturmuseum Badenweiler und Deutsche Tschechow-Gesellschaft (DTG) am 27.1. zu einem wahrhaft chamäleonesk-turbulenten Abend bei vollem Saal geladen. Wie im letzten Jahr gestalteten Mitglieder aus DTG-Vorstand und Kuratorium die Lesung.

Der weiten und verständnisvollen Natur Tschechows angemessen, wurde der Abend mit einer Würdigung des Erzählers und Romanciers Iwan Turgenjew eröffnet, der vor 200 Jahren geboren wurde. Wie Prof. Dr. Rolf-Dieter Kluge, Vorsitzender der DTG, ausführte, war er der Lieblingsschriftsteller Tschechows. Turgenjew, der außer in Moskau auch in Berlin studiert hatte, hatte fast acht Jahre seines Lebens in Baden-Baden verbracht, - zudem in einem Ménage-à-trois-Verhältnis mit der berühmten französischen Sängerin Pauline Viardot und deren Gatten. Turgenjew ist heute noch für Russen „der Westler“ überhaupt, der mit Romanen wie „Väter und Söhne“ oder „Rauch“, der in Baden-Baden spielt, die damals zentrale Frage nach der geistigen Orientierung Russlands – Ost oder West – stellte. Turgenjew kam zudem, da er mit einem Großteil der Schriftsteller Deutschlands persönlich bekannt oder befreundet, war, eine Art kulturelle Brückenfunktion mit Russland zu.

Drei „Gedichte in Prosa“ Turgenjews sollten die erste Hälfte der Soiree beschließen: Der romantisch-anrührende Text „Der Spatz“, dann „Der Hund“ und zuletzt das „Lob auf die russische Sprache“, auf Deutsch gelesen von Dr. Regine Nohejl und auf Russisch, um dem authentischen Wortklang Referenz zu erweisen, von Elisabeth Hartmann und Dr. Jana Wenzel. Dietmar Kluge, Pianist und Leiter der Musikakademie Dettenhausen, umkleidete die erste Hälfte musikalisch einfühlsam mit Schuberts „Impromptu As-Dur“ und dem „Ständchen“ von Schubert/Liszt.

Der zweite Teil des Abends bot ein Tschechowsches Satire-Feuerwerk: Drei kleine Erzählungen – eine literarische Spezialität Tschechows –, so Kluge bei seiner Einführung, seien von dem Schriftsteller Dr. Wolfgang Schwarz und der Dramaturgin Erica Risch 1977 in Minidramen umgewandelt worden. Nun erfolge deren Wiederentdeckung, wenn auch nicht als richtiges Theaterspiel, sondern als Lesungen. Den furiosen Start gab das Duo Barbara Hahn-Setzer und Heinz Setzer mit dem „Simulant“: Ein verarmter Landadeliger schmeichelt sich bei einer als Homöopathikerin praktizierenden reichen Generalsgattin ein, indem er vorgibt, durch drei winzige Arzneikörnchen, die sie ihm gegeben hatte, von seiner jahrelangen Krankheit geheilt worden zu sein. Aus Freude über dieses Heilwunder beschenkt sie ihn übermäßig – bis sie feststellt, dass alles Betrug war: „Arglistig ist der Mensch!“ so ihre entsetzten Schlussworte. Beim „Chamäleon“ wagte das „Ensemble“ (Prof. Dr. Helmut Haas, Elisabeth Hartmann, Dieter Schreck, Prof. R.-D. Kluge und Inge Kluge mit Hund Olga) sogar eine turbulente „szenische“ Lesung: Ein Handwerker wird von einem Hund gebissen, beklagt seinen blutenden Finger beim Stadtpolizisten, der die „Bestie“ auf der Stelle erschießen lassen will. Doch als sich erweist, dass der Hund vielleicht dem Standortgeneral oder dessen Bruder gehört, wandelt sich die Bestie beim Polizisten zum niedlichen Hündchen, der Handwerker aber zum üblen Unruhestifter.

Dass Tschechow ein Meister der unerwarteten Erzählschlüsse ist, bestätigte sich auch bei der dritten, von Prof. Dr. Dorothea Scholl und Prof. Kluge gelesenen Kurzgeschichte „Eine rätselhafte Natur“: Eine Dame und ein Mitreisender geraten ins Gespräch. Sie beklagt ihm, dass sie ihr junges Leben lange einem reichen alten Greis hingeopfert habe, mit dem sie sich verehelicht hatte. Nun endlich sei er verstorben und habe sie reich und frei zurückgelassen. Doch schon drohe das nächste Unheil, um ihr Leben zunichte zu machen: ein zweiter reicher Greis! Nach der ersten Verblüffung des Publikums ließ der große Applaus nicht auf sich warten.

Dietmar Kluge löste die literarische Spannung jeweils zwischen den Lesungen durch passend ausgewählte Stücke von Tschajkowski, Skrjabin und Rachmaninow, die gleichfalls stürmischen Beifall erhielten.

Anschließend blieb ausreichend Zeit für Gespräche, aber vor allem auch, um die ausgezeichnete Küche des Hotels zu genießen.

Die von Martin Berger, Büro für Digitalisierung, gefilmte Soiree kann auf dem Youtube-Kanal der DTG nacherlebt werden: https://www.youtube.com/watch?v=NRhkh-SywtI